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Der letzte AuftragOverlay E-Book Reader

Der letzte Auftrag

Roman | Titus Müller


2023 Heyne Verlag
400 Seiten
ISBN: 978-3-641-27070-4

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Kurztext / Annotation
1989. Ria Nachtmann hat ihre große Liebe geheiratet und sich als Spionin zur Ruhe gesetzt. Ihre Tochter Annie verfolgt derweil einen gewagten Plan: Sie will eine Doku des DDR-Widerstands drehen und sie in den Westen schmuggeln. Als sie und ihr Freund Michael dabei versehentlich zwei Männer einer KGB-Geheimoperation filmen, gerät alles außer Kontrolle. Der in Dresden stationierte russische Agent Wladimir Putin hängt sich an ihre Fersen. Mutter und Tochter stehen bald zwischen allen Fronten und müssen erkennen, dass es um nichts weniger geht als um den Sturz der DDR-Regierung und die Zukunft Deutschlands.

Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Geschichtswissenschaften und Publizistik. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift »Federwelt« und veröffentlichte seither mehr als ein Dutzend Romane. Er lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde u.a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Homer-Preis ausgezeichnet. Seine Trilogie um »Die fremde Spionin« brachte ihn auf die SPIEGEL-Bestsellerliste und wird auch von Geheimdienstinsidern gelobt.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

1

Dieses Zimmer, in dem sich entschied, ob sich die Lebenszeit der Kinder nur in Tagen bemaß oder in Jahrzehnten, war der einzige Ort auf der Welt, an dem Annie glücklich war.

Die Inkubatoren rauschten leise. Sie strahlten Wärme ab. Der Sauerstoff, den sie an die Säuglinge verströmten, war kein Allheilmittel. Dosierte man ihn zu hoch, erblindeten die Kinder.

Annie beugte sich im ultravioletten Licht der Lampen über eine Couveuse. Luisa war jetzt acht Tage alt, sie bekam zum ersten Mal Vitamin D. Aus einer Ampulle verabreichte Annie ihr einen Tropfen Dekristol in öliger Lösung.

Das Kind in der nächsten Couveuse hatte heute früh eine Lungenblutung erlitten, ihm war schaumiges Sekret aus Mund und Nase gedrungen. Annie hatte ihm vorsichtig Mundhöhle, Rachenraum und Luftröhre abgesaugt, und der Arzt hatte intramuskulär Vitamin K gespritzt. Sie wusste, es brauchte Ruhe. Es war noch nicht verloren. Erschöpft lag es da und schlief.

Einige der Kinder waren so winzig, dass Annie sie in einer Hand halten konnte. Manche hatten Fehlbildungen, die liebte Annie noch mehr. Sie tunkte den Wattetupfer in die blaue Lösung und pinselte Kathleens weiße Soorflecken ein, sie wucherten als Nebenwirkung des Antibiotikums. Kathleen sah sie aus staunenden hellen Augen an.

»Ihr werdet viel zu wenig berührt«, sagte Annie und streichelte ihr den Bauch.

Die Hautabszesse bei Lukas waren ein schlechtes Zeichen, seine Widerstandskraft war zu gering. Er würde noch eine Bluttransfusion brauchen. Sie desinfizierte vorsichtig seine Haut, tupfte sie trocken und gab ein antibiotisches Puder darauf.

Ihre Ziehmutter Helga war ein einziges Mal wirklich nett zu ihr gewesen. Da war Annie klein gewesen, sie waren zu Besuch in Magdeburg, und eine Kolonne sowjetischer Armeefahrzeuge donnerte vorüber, die Panzerketten zerschrammten das Straßenpflaster, und die Dieselmotoren dröhnten, und die Stiefmutter hatte gesagt: »Wenn du Angst hast, nimm meine Hand.« Jetzt nahm sie Lukas' Hand. Er war schon wieder so gelb. Sie strich sanft über seinen kleinen Handrücken. Er musste sondiert werden, obwohl er doch schon selbst getrunken hatte. Auch wenn eine nicht ausgereifte Leber bei Frühgeborenen häufig war, machte sie sich Sorgen. Lagerte sich der Gallenfarbstoff im Hirnstamm ab, konnte es schwere neurologische Störungen geben.

Beim nächsten Kind jubilierte sie im Stillen. Sarah wog über zweitausendfünfhundert Gramm. Man würde sie morgen nach Hause entlassen. Annie kitzelte ihr die Fußsohlen. »Bist du meine süße Sarah? Bist du meine Süße?«

Die Stationsschwester betrat den Raum. Sie warf Annie einen tadelnden Blick zu. »Du bist nicht zum Spaß hier. Füttern, wickeln. Vor dem Schichtwechsel musst du durch sein.«

Draußen hörte sie das Telefon klingeln. Sie hörte, wie die Schwesternschülerin sagte: »In Ordnung, wir kommen.«

Ein Ruf der Entbindungsabteilung. Ein Frühchen war geboren worden. Annie sagte: »Ich gehe.«

Jetzt wechselte der Gesichtsausdruck der Stationsschwester. »Annie, du solltest nicht -«

»Ich gehe!« Sie nahm draußen den Wäschekorb, den die Schwesternschülerin gerade mit Wärmflaschen ausstattete. Kopfkissen, Decke, eine Mullwindel als Kopfstütze und eine als Schulterstütze lagen bereits darin. Annie fragte: »Ist die Sauerstoffflasche gefüllt?«

Die Schülerin bestätigte.

Sie nahm die Bereitschaftstasche, das Gewicht passte, es war sicher alles drin, Handbeatmungsgerät, Endotrachealtuben, steriler Mull zum Dazwischenlegen bei erforderlicher Mund-zu-Mund-Beatmung, Laryngoskop. »Wärmt schon mal eine Couveuse vor«, sagte sie.

Sie würde das Kind in der Entbindungsstation rektal messen, dann würde sie es behutsam in die Decke wickeln, in den Transportkorb legen und zu beiden Seiten und am Fußende eine Wärmflasche platzieren. Es durfte auf dem Weg in die Frühgeborenenstation keinesfalls auskühlen.

»Annie!«, rief ihr die